Nach Schätzungen des kalifornischen
Branchendienstes Technorati wird im weltweiten Datennetz in jeder Sekunde ein
neues Blog geboren. Die modernen Online-Tagebücher sind leicht zu erstellen und
bieten neue Plattformen für Persönliches oder auch PR. Kritiker klagen über
Pseudo-Journalismus, Befürworter loben die Möglichkeit, vom Empfänger zum
Sender zu werden.
Immer mehr Blogger hinterlassen im Internet meinungsfreudig ihre Spuren. Blog-Dienste erlauben es, auch ohne Programmierkenntnisse und teure Content-Manager innerhalb weniger Minuten Online-Texte zu erstellen und zu veröffentlichen. Die Ergebnisse sehen aus wie normale Internetseiten, wobei immer der zuletzt erstellte Beitrag ganz oben steht. Mit der Zeit entstehen regelrechte Tagebücher oder Online-Journale, die als Web-Logbücher (kurz: Weblogs oder Blogs) von Dritten kommentiert werden können. So wachsen im Internet originelle Text-Sammlungen mit Meinungen jenseits des Mainstreams, die zur virtuellen persönlichen Vernetzung („Web 2.0“) beitragen können.
Technorati schätzt die Summe der weltweit
vorhandenen Online-Tagebücher inzwischen auf etwa dreißig Millionen, die Website
Blog Herald geht sogar von 200 Millionen
dieser neuen Internet-Inhalte aus. „Als ich selbst mit dem Bloggen begann –
Anfang 2003 – gab es in Deutschland weniger als 500 Blogs. Heute sind es etwa
120.000, wenn ich nur die aktiven Blogs zähle“, ist Wolfgang
Lünenbürger-Reidenbach begeistert. Der Medienexperte und passionierte Blogger
(„der haltungsturner“) leitet Seminare, mit denen er zur Etablierung einer
neuen Medienkultur beitragen will.
Noch hinkt Deutschland im internationalen Vergleich hinterher. In Großbritannien gibt es etwa zehnmal mehr Blogs, in den Niederlanden doppelt so viele. Blog Herald nennt für Japan und Indien jeweils zehn Millionen, für Südkorea zwanzig und für China sogar mehr als dreißig Millionen Blogs. Geschrieben wird über alles: über Mode und Politik, über persönliche Befindlichkeiten oder öffentlichen Protest, über Wichtiges oder Belangloses, über Innovationen und die Kritik an ihnen. Längst haben auch Unternehmen Blogs als Instrumente der Public Relations entdeckt, und Manager beschäftigen sogar Ghostwriter, um sich mindestens einmal pro Woche der Blogger-Community zu offenbaren.
Je stärker Blogs untereinander
verlinkt sind, desto größer wird ihre Reichweite. Manchmal scheint es fast, als
könnten Blogs die etablierten Massenmedien ersetzen. So waren die ersten
Informationen und Bilder über Anschläge auf die Londoner U-Bahn im vergangenen
Jahr in Blogs zu lesen. Nach der Tsunami-Katastrophe vor zwei Jahren bezogen
sogar Journalisten ihre ersten Informationen aus den Online-Reports von Betroffenen.
Generell aber herrscht zwischen der von subjektiven Empfindungen geprägten Blogger-Welt und dem Journalismus ein eigenartiges Spannungsverhältnis. Der Dortmunder Journalistik-Professor Marcel Machill warnt bereits vor „Pseudo-Journalismus“, weil viele Blogger inzwischen mit dem Gestus und Geltungsanspruch etablierter Massenmedien auftreten. Objektivität oder gar Qualitätskontrolle spielen in den Online-Tagebüchern – abgesehen von den Vorzeigeprojekten einiger etablierter Journalisten – keine Rolle. Statt Fakten werden häufig Meinungen präsentiert, an die Stelle von Recherchen treten dann Vorurteile.
Soziologen und Kommunikationswissenschaftler weisen darauf hin, dass Blogs es in der Mediengesellschaft allen ermöglichen, sich medial zu inszenieren und damit Zuschauer und Medienschaffende in einer Person zu sein – getreu dem Motto „Ich blogge, also bin ich“. Flickr.com bietet mehr als neun Millionen private Fotos. Da wird die Welt zum globalen Dorf, in dem „digital natives“ es sich gemütlich machen. Und wem Texte und Fotos nicht ausreichen, der stellt einfach Video-Blogs (Vlogs) ins Netz.
Die Wochenzeitung Die Zeit schrieb, Blogs ständen unter dem Verdacht, „sie würden in ihrer Mehrzahl nur das Geräusch verstärken, nicht aber wertvolle Inhalte bieten“. Solche Sätze signalisieren die Distanz zwischen Deutschlands Prestigemedien und der Blogsphäre. Um nicht vom Trend abgehängt zu werden, bieten fast alle etablierten Massenmedien dennoch inzwischen eigene Blog-Sites.