Wikis, Blogs, Podcasts oder Social Software: Die neue Internet-Generation Web 2.0 verheißt moderne Netzwerke, Interaktion und die Selbstverwirklichung des Einzelnen im virtuellen Raum. Allmählich kristallisieren sich Geschäftsmodelle heraus und neue Anforderungen an Daten- und Urheberrechtsschutz.

Der Begriff Web 2.0 klingt nach Aufbruchstimmung und nach einer völlig neuen Software-Version. Die Online-Welt als Update! Was viele nicht wissen: Die Zauberformel war eine Verlegenheitslösung, als der Online-Pionier Tim O’Reilly 2004 nach einem zugkräftigen Schlagwort als Titel für einen seiner Internet-Kongresse suchte. Irgendwie hat sich der Begriff dann verselbständigt und wurde zum Synonym fürs World Wide Web der zweiten Generation. Im Mittelpunkt stehen dabei Inhalte, die von Nutzern erstellt werden: Blogs, Wikis, Podcasts, Communities.

Eigentlich ist die Sache mit der neuen „Social Software“ schon ein bisschen älter. Weblogs existieren bereits seit mehr als fünf Jahren. Die Online-Enzyklopädie Wikipedia wurde von Jimmy Wales ebenfalls bereits 2001 ins Leben gerufen. Inzwischen enthält die englischsprachige Fassung mindestens eine Million Beiträge, die deutsche Version bietet mehr als 420.000 Artikel. Mehrere zehntausend Bürger weltweit schreiben neue Beiträge oder ergänzen bereits bestehende Texte. Auch Korrekturen sind möglich. Wikipedia gilt als Musterbeispiel fürs Web 2.0, bei dem Nutzer zu Autoren werden und passive Konsumenten zu aktiven Produzenten mutieren. Sozialforscher loben bereits die neue Macht der Kollektivs im Bürgermedium Internet, meinen im Netzwerk-Wissen eine höhere Form gesellschaftlicher Vernunft zu entdecken und verklären den Mitmach-Marathon im Netz zum heiligen Hort der Aufklärung.

Ü Entertainment-Community MySpace

Während sich Wikipedia mehr der Wahrheit als dem Wagniskapital verschrieben hat, hoffen andere Web-2.0-Anbieter auf das große Geld. So zahlte etwa Rupert Murdochs Medienkonzern News Corp. im vergangenen Jahr 580 Millionen Dollar (453 Mio. €) für die Übernahme der Kontakt- und Entertainment-Community MySpace. Das Engagement scheint sich rasch auszuzahlen. Im August schloss Murdoch eine Werbe-Kooperation mit dem Suchmaschinenbetreiber Google und streicht in den kommenden drei Jahren dafür mindestens 900 Millionen Dollar (703 Mio. €) ein. Google wird MySpace-Nutzer, die nach bestimmten Inhalten suchen, künftig gezielt mit Anzeigen konfrontieren. MySpace wurde im Juli 2003 von Tom Anderson und Chris Dewolfe gegründet, hat nach eigenen Angaben inzwischen mehr als 100 Millionen Mitglieder und ist zugleich Kontaktbörse, virtuelles Foto- und Poesiealbum, Plattform für Blogs und Instant Messaging sowie Musicbox. Täglich wächst die MySpace-Gemeinde um etwa 200.000 neue Fans und ist inzwischen das meistgenutzte Online-Angebot in den USA. In Deutschland heißen ähnliche Portale Passado oder Miaplaza.

Ü Shooting-Star YouTube

Ein weiterer Shooting-Star der Branche ist YouTube: Chad Hurley und Steven Chen starteten das Angebot erst im Dezember 2005 und etablierten die Plattform für Videoclips aller Art binnen weniger Monate als Kult-Objekt. Täglich werden über YouTube – Tube heißt umgangssprachlich „Glotze“ – etwa 100 Millionen Videos angeschaut und 65.000 neue Filme ins Netz gestellt. Das Spektrum der angebotenen Motiv-Schnipsel reicht auch bei deutschen Plattformen für Videos und Fotos, wie zum Beispiel Sevenload, von Babys ersten Gehversuchen über peinliche Pannen bis hin zu Sketchen, die mit wackeliger Kameraführung gedreht wurden. In spätestens einem Jahr will YouTube die Videos aller großen Musiklabels integrieren. Sollte das gelingen, würde sich die Ära des Pop-TV dem Ende zu neigen und die Post-MTV-Generation hätte ein neues Leitmedium.

Inzwischen sitzen bereits viele junge Internet-Nutzer länger vor dem Computer-Monitor als vor dem Fernsehgerät. RTL Interactive gründete deshalb im Juni das Internetportal Clipfish.de, bei dem jeder eigene Filmsequenzen veröffentlichen oder fremde Videodateien kommentieren kann. Die ProSiebenSat.1 Media AG beteiligte sich Anfang September mit dreißig Prozent der Gesellschafteranteile am deutschen Marktführer MyVideo (täglich bis zu zwei Millionen Abrufe) und sicherte sich die Option, das Unternehmen später komplett zu übernehmen.

Ü Foto-Galerie Flickr

Die unterschiedlichen Spielarten des Web 2.0 haben inhaltlich gemeinsam, dass sie Menschen mit ähnlichen Interessen zusammenbringen, die selbst Inhalte beisteuern und bereit sind, (Pseudo-)Persönliches preiszugeben. Das Netz wird zum Forum für Politik und Privates, für Buntes und Banales, für Wissenswertes und Unwichtiges. Dies gilt für Blogs (4 siehe Artikel Blogs, PR und Pseudo-Journalismus) und Communities, für Foto- und Video-Portale.

In der virtuellen Freizeit-Arena der Online-Communities tummeln sich inzwischen so viele meist junge Menschen, dass viele Web-2.0-Firmen zu umworbenen Übernahmeobjekten werden. So übernahm zum Beispiel Yahoo im vergangenen Jahr die virtuelle Foto-Galerie Flickr für geschätzte 35 Millionen Euro. Nur ein Jahr nach dem Start ihres Online-Fotoalbums wurden die Gründer Caterina Fake und Stewart Butterfield zu Millionären. Inzwischen hat Flickr nach eigenen Angaben mehr als vier Millionen Mitglieder, 5.000 Seitenzugriffe pro Minute und präsentiert etwa 180 Millionen Fotos, darunter auch einige von Profi-Fotografen.

Ü Boom bei Online-Werbung

Während Internet-Nutzer im Web 2.0 vor allem nach Informationen, Selbstbestätigung, Freunden, Videos, Musik und Bildern suchen, macht sich das Net-Business auf die Suche nach neuen Online-Märkten. In den USA sollen die Online-Werbeausgaben in diesem Jahr um etwa ein Drittel wachsen. In Deutschland stieg der Umsatz mit klassischer Online-Werbung (ohne Suchwort-Vermarktung) von Januar bis Juni im Vergleich zum ersten Halbjahr 2005 um fast siebzig Prozent auf 380 Millionen Euro.

Ähnlich wie im Print- oder TV-Bereich kristallisieren sich auch im Web 2.0 inzwischen ersten Spartenangebote heraus. Das für Studierende etwas anspruchsvollere Pendant zu MySpace heißt Facebook und gehört inzwischen zu den zehn besucherstärksten Online-Angeboten in den USA. Facebook wurde als „Inter-Networking“ für den akademischen Nachwuchs 2004 vom Harvard-Studenten Mark Zuckerberg gegründet und funktioniert längst als virtueller Campus für Tausende von Universitäten und Schulen. Fast fünfzig Prozent der US-Studierenden haben inzwischen ein Facebook-Profil. Die deutschen Studenten-Netzwerke Studylounge und StudiVZ hoffen auf ähnliche Erfolge.

Ü „Friend-of-a-friend“-Prinzip

Wer sich als erfolgreich im Beruf darstellen will, für den ist inzwischen das Netzwerk Open Business Club (OpenBC) ein Muss. Das Business-Netzwerk wurde in Deutschland gegründet, bietet seine Plattform aber längst in mehreren Sprachen an und funktioniert mit seinen mehr als eine Million Nutzern nach dem „Friend-of-a-friend“-Prinzip. Dabei kann jeder eine virtuelle Visitenkarte und eine Liste seiner wichtigsten Online-Kontakte hinterlassen. Ähnliche Netzwerke bieten auch Friendster oder Googles Angebot Orkut.

Dass Inhalte des Web 2.0 inzwischen ähnlich viel Wirkung haben können wie etablierte Massenmedien, musste der US-Politiker Joe Lieberman erfahren. Er scheiterte auf dem Weg zu den Senatswahlen bereits bei Kandidaten-Nominierung seiner demokratischen Partei im Heimatstaat Connecticut, nachdem Blogger ihm mangelnde Nähe zur Parteibasis vorgeworfen hatten. Solche Nachrichten verbreiten sich im Internet inzwischen wie ein Lauffeuer. Dazu trägt auch das Angebot von Digg.com bei. Der 29-jährige Kevin Rose kam vor zwei Jahren auf die Idee, Links auf Nachrichten anderer Seiten so zu organisieren, dass sie automatisch nach ihrer Popularität bei den Nutzern geordnet werden. Mehr als eine Million Surfer melden täglich, welche Meldungen ihnen im Netz am besten gefallen. In Deutschland besteht mit Yigg.de inzwischen ein ähnliches Angebot.

Ü Egosurfing und Egocast

In den USA existieren mehr als 100 Millionen Web-Tagebücher, in Deutschland etwa eine Viertel Million. Die Branche schwärmt von Egosurfing oder Egocast. Online-Lotsen, Blogger und Podcaster generieren immer mehr eigene Inhalte im Netz. Wikipedia bietet mit Wikinews sogar eine Plattform für Bürger-Journalismus. Wenn in München Annik Rubens in ihren Podcasts („Schlaflos in München“) über das Leben und den Alltag erzählt, interessieren sich dafür inzwischen bis zu 10.000 Zuhörer. Die amerikanische Plattform Podshow.com bietet etwa 200 solcher Blog-Kanäle für Radio- und Video-Shows, die pro Monat etwa zehn Millionen Downloads erreichen.

Die Kennzeichen des Web 2.0 sind soziale Interaktion („Ich blogge, also bin ich.“) und von Nutzern selbst erstellte Inhalte („Du bist das Netz!“). Doch es lauern auch Risiken: Wer sich selbst im Netz verwirklicht, hinterlässt eine breite Datenspur. Hinzu kommt, dass immer mehr Inhalte ohne das Wissen ihrer Erzeuger – Autoren, Kameraleute, Künstler etc. – im Web 2.0 auftauchen. Datenschutz und Urheberrecht der Ära Web 1.0 reichen da nicht aus. Problematisch ist auch, dass auf den Video-Portalen oft tendenziöse Beiträge – von der Werbung bis zur politischen Propaganda – auftauchen, die als solche schwer zu identifizieren will. Um die Angebote des Web 2.0 angemessen zu dechiffrieren, aber auch selbst Inhalte so zu präsentieren, dass die eigene Persönlichkeit nicht unter den Folgen leidet (Mobbing, sexuelle Belästigung, Preisgabe persönlicher Daten etc.), bedarf es einer neuen Form der Medienkompetenz – und vielleicht auch einer Medienpädagogik 2.0.